Angst in Deutschland, zwei Seiten einer Verunsicherung – Critical Incident Teil 1

Was passiert, wenn sich ein ganzes Land nicht mehr sicher fühlt – und zugleich Millionen Menschen nicht mehr dazugehören sollen? Deutschland im Jahr 2025. Ein Land im Ausnahmezustand – nicht offiziell, aber gefühlt. Die Angst geht um. In der Bahn, auf dem Marktplatz, im Stadion, bei Konzerten. Nach mehreren Anschlägen wächst die Verunsicherung in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft: Wer ist noch vertrauenswürdig? Wer ist Teil des „Wir“? Und vor allem: Wie konnte das alles so kippen? Dabei geht in der öffentlichen Debatte häufig etwas Entscheidendes verloren: Während viele Deutsche Angst vor Gewalt, Kontrollverlust und gesellschaftlicher Veränderung haben, leben andere mit einer ganz anderen Angst – der, nicht mehr dazuzugehören. Obwohl sie hier geboren wurden. Obwohl sie längst Teil der Gesellschaft sind. Obwohl sie ebenfalls unter der Eskalation leiden.

Wir befinden uns mittendrin – in einem interkulturellen „Critical Incident“, einem kritischen Zwischenfall. Zeit, ihn systematisch zu analysieren.

Schritt 1: Was wir voneinander erwarten – und nie aussprechen

In der interkulturellen Arbeit beginnen wir mit den impliziten Erwartungen: Was erwarten die beteiligten Gruppen voneinander, ohne es auszusprechen? Oft sind es diese unbewussten Vorstellungen, die für Spannungen sorgen.

Die Mehrheitsgesellschaft erwartet:

  • Sicherheit: Der Staat soll Ordnung garantieren, Menschen schützen – auch vor Terrorismus oder „unkontrollierter Migration“.
  • kulturelle Kontinuität: Gewohnte Werte, vertraute Umgangsformen, das „deutsche“ Alltagsgefühl sollen bewahrt bleiben.
  • Loyalität: Wer zugewandert ist oder aus einer migrantischen Familie stammt, soll sich anpassen, nicht gegen das System stellen – am besten dankbar sein.
  • Unbesorgtheit: Wer in seinem „eigenen“ Land lebt, möchte sich dort frei bewegen können – ohne Angst oder Fremdheit.

Menschen mit Migrationsgeschichte erwarten:

  • Anerkennung: Wer hier geboren wurde, Deutsch spricht und seinen Beitrag leistet, möchte nicht ständig als „fremd“ markiert werden.
  • Gleichbehandlung: Keine Sonderbehandlung, aber auch kein Generalverdacht wegen Hautfarbe, Namen oder Religion.
  • Schutz vor Rassismus: Das Sicherheitsversprechen des Staates gilt für alle.
  • Normalität: Sie wollen dazugehören – ohne sich ständig erklären zu müssen.

Was auffällt: Beide Seiten wollen Sicherheit, Stabilität, Respekt. Aber ihre Perspektiven darauf sind sehr unterschiedlich – und stoßen immer öfter schmerzhaft aufeinander.

Schritt 2: Missverstehen als Normalzustand

Die eigentliche Bruchlinie verläuft selten entlang des Verhaltens. Viel häufiger liegt sie in der Interpretation dieses Verhaltens.

Wie sieht die Mehrheitsgesellschaft das Verhalten von Migrant*innen?

  • Kulturelle Eigenheiten werden als Distanz oder Ablehnung gewertet.
  • Kritik an Diskriminierung gilt schnell als Undankbarkeit.
  • Solidarität innerhalb migrantischer Communities wird als Parallelgesellschaft empfunden.
  • Sichtbare Religiosität erscheint bedrohlich oder fanatisch – nicht als Ausdruck von Freiheit.

Und umgekehrt – wie erleben Migrant*innen die Mehrheitsgesellschaft?

  • Fragen zur Herkunft oder Äußerlichkeiten wirken wie Ausgrenzung.
  • Der ständige Appell zur Integration wird als Forderung zur Assimilation empfunden.
  • Verbrechen Einzelner führen zu kollektiver Verurteilung ganzer Gruppen.
  • Ignoranz gegenüber Rassismus bedeutet: „Unsere Ängste zählen nicht.“

Beide Seiten fühlen sich missverstanden, überfordert und bedroht – oft mit denselben Emotionen: Angst, Trauer, Wut, Rückzug.

Gleiches Gefühl, unterschiedliche Geschichte

Es ist ein paradoxer Zustand: Zwei Gruppen leben in demselben Land, empfinden ähnliche Ängste – und stehen sich dennoch wie Fremde gegenüber. Der Grund liegt in einem doppelten Missverständnis:

  • Die eigene Sichtweise wird als selbstverständlich angesehen.
  • Die Perspektive der anderen wird kaum aktiv eingeholt – sondern oft entwertet.

So entsteht ein gefährlicher Kreislauf aus Angst, Abwertung und Rückzug. Doch genau hier liegt auch der Hebel für Veränderung.

Ausblick: Wie kann Annäherung gelingen?

Im nächsten Artikel schauen wir darauf, wie dieser „Critical Incident“ nicht in einer Spaltung endet – sondern in einem Lernmoment. Was können wir tun, um das Vertrauen wiederherzustellen? Was brauchen wir, um Angst nicht zum Dauergast in unserem Zusammenleben werden zu lassen? Denn: Die Verständigung zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte ist möglich – aber sie fällt nicht vom Himmel. Sie beginnt mit einem bewussten Schritt aufeinander zu.