Willkommenskultur in Deutschland: Lippenbekenntnis oder Realität? Der blinde Fleck im Kampf gegen den Fachkräftemangel
Und noch eine Studie.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat eine Studie zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz veröffentlicht.(1) „Im Kurzbericht werden die Arbeitsmarktintegration, der Einwanderungsprozess und die Diskriminierungserfahrungen der Migrant*innen untersucht, die diese neuen Regelungen genutzt haben."(2) Soweit die Fakten.
Nicht neu ist, dass Deutschland ein akutes Problem hat: Die Fachkräftelücke wächst schneller als alle unsere bisherigen Maßnahmen greifen! Eine jährlich benötigte Zuwanderung von 400.000 bis 500.000 Arbeitskräften wäre erforderlich, um die demografisch bedingten Lücken zu füllen. Doch die Realität sieht anders aus. Das Jahr 2023 verzeichnete lediglich 72.000 Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten, die nach Deutschland kamen – eine Zahl, die viel zu gering ist, um den steigenden Bedarf zu decken.
Woher kommen die Fachkräfte wirklich?
Während Europa als Zuwanderungsquelle stagniert, verlagert sich der Fokus immer mehr auf Drittstaaten wie Indien, Vietnam und Nigeria. Ein Blick in den aktuellen IAB-Bericht zeigt, dass der Anteil der Fachkräfte aus Asien seit 2020 von 26 % auf bescheidene 33 % gestiegen ist. Auch aus Afrika kommen zunehmend mehr Arbeitskräfte, mit einem Anstieg von 7,4 % auf 12 % in nur wenigen Jahren. Die Fachkräfte kommen – doch warum bleiben viele nicht oder erleben Deutschland als wenig einladend?
Willkommenskultur – die Chance, die wir regelmäßig verpassen
Der Begriff „Willkommenskultur“ wird viel zu oft als Worthülse verwendet. Für viele der Fachkräfte, die nach Deutschland kommen, hört das „Willkommen“ schon bei der Wohnungssuche und den notwendigen Behördengängen auf. Laut IAB-Bericht haben 56 % der befragten Fachkräfte Diskriminierung erlebt – in Worten: sechsundfünfzig. Das betrifft mehr als die Hälfte! Wo liegen die größten Hürden? Die Wohnungssuche wird oft durch gruselige Vorurteile erschwert. Erschreckend, dass 40 % der Fachkräfte bei der Wohnungssuche diskriminiert werden. Und damit nicht genug: 21 % der Fachkräfte erleben Diskriminierung am Arbeitsplatz – also in dem Umfeld, das sie eigentlich willkommen heißen sollte.
Dabei sind es häufig persönliche Kontakte und der gute Ruf eines Landes, die potenzielle Fachkräfte anziehen. Negative Erfahrungen im Bekanntenkreis dagegen bewirken das Gegenteil. Jeder Personalerin oder jedem Personaler sollte doch 2024 endlich bewusst sein: Menschen aus anderen Kulturen bringen nicht nur die nötige Qualifikation mit, sondern auch Perspektiven und Ideen, die unsere Unternehmen bereichern können – wenn wir sie lassen! Und wenn wir diese Kompetenzen wertschätzen und aktiv einbeziehen. Aber nach wie vor ist die Investition in interkulturelle Schulungen für alle eine Randerscheinung.
Integration ist nicht die Kür, sondern Pflicht
Wollen wir diese Fachkräfte wirklich halten, dann müssen sich Unternehmen endlich ernsthaft um Integration kümmern und diese nicht als privates Thema der ‚Internationals‘ betrachten. Hier sind nicht die Bundesregierung gefragt oder irgendwelche Behörden. Die Unternehmen selbst, ihre Personaler*innen und Führungskräfte stehen in der Pflicht. Es reicht nicht aus, auf Fachkräfte aus dem Ausland zu warten und zu hoffen, dass sie sich schon irgendwie einfinden. Was wir brauchen, ist eine aktive und nachhaltige Willkommenskultur, und zwar ab dem ersten Tag. Hier ein paar konkrete Maßnahmen, die ganz oben auf die Prioritätenliste gesetzt werden müssen:
- Diskriminierung aktiv bekämpfen, denn Diskriminierung in jeder Form ist ein No-Go. Unternehmen müssen klare Antidiskriminierungsrichtlinien etablieren, Schulungen zu interkultureller Kompetenz anbieten und sich gezielt gegen Vorurteile positionieren.
- Integration erleichtern! Wie wäre es, wenn Ihr Unternehmen neuen Fachkräften bei der Wohnungssuche hilft oder Sprachkurse anbietet? Stellen Sie sicher, dass Ihre neuen Mitarbeiter*innen schnell Fuß fassen, indem Sie den bürokratischen Aufwand so niedrig wie möglich halten und Deutschkurse anbieten. Ja, das kostet Geld – aber es ist eine Investition in die Zukunft Ihres Unternehmens. Denn je schneller die neuen Kolleg*innen auf Deutsch kommunizieren können und sich eingerichtet haben, desto schneller werden sie für das Unternehmen produktiv.
- Familienfreundlichkeit fördern: Wenn Sie es ernst meinen mit der Willkommenskultur, bieten Sie familienfreundliche Arbeitsmodelle an. Viele der zugewanderten Fachkräfte sind jung und haben Familien. Bieten Sie flexible Arbeitszeiten, Teilzeitmodelle und Unterstützung bei der Kinderbetreuung, um die Integration auch auf familiärer Ebene zu fördern. Diese Maßnahmen werden übrigens auch von den langjährigen Mitarbeitenden sehr geschätzt.
- Buddies, Mentor*innen- und Netzwerkprogramme einrichten: Lassen Sie Ihre erfahrenen Mitarbeiter*innen Buddies und Mentoren für die Newbies werden. Solche Netzwerke helfen neuen Fachkräften, sich schnell im Unternehmen und in der deutschen Arbeitskultur zurechtzufinden.
Die Wahl liegt bei Ihnen: Zukunft gestalten oder den Anschluss verlieren?
Die Wahrheit ist einfach: Wer Integration und Willkommenskultur auf die lange Bank schiebt, wird es schwer haben, die Fachkräfte der Zukunft zu gewinnen und zu halten. Die Zahlen sprechen für sich, und die Hürden, die zugewanderte Fachkräfte erleben, sollten nicht länger ignoriert werden. Die Welt dreht sich schnell, und Deutschland kann es sich schlicht nicht leisten, dass Fachkräfte Deutschland als unwirtliches, bürokratisches und diskriminierendes Land wahrnehmen.
Es liegt in Ihrer Hand, Deutschland und Ihr Unternehmen zu einem Ort zu machen, an dem Fachkräfte nicht nur gebraucht werden, sondern auch bleiben wollen.
(1) https://iab.de/publikationen/publikation/?id=14266001
(2) Fendel, Tanja & Boris Ivanov (2024): Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Gute Arbeitsmarktintegration trotz bürokratischer Hürden und Diskriminierung. (IAB-Kurzbericht 21/2024), Nürnberg, 8 S. DOI:10.48720/IAB.KB.2421